600 Arztpraxen könnten aus der ohnehin schon knappen Regelversorgung fallen, bis zu 4 Millionen Patientenkontakte nicht mehr stattfinden // In der Folge wird eine erneute Überlastung der Notfallversorgung befürchtet
Im Februar 2023 hat die „Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“ ihre Empfehlung zur Reform der Notfall- und Akutversorgung in Deutschland veröffentlicht. Darin schlägt die Kommission vor, die Notfallversorgung möglichst an größeren, gut ausgestatteten Krankenhäusern zu konzentrieren. Zur Entlastung dieser Notaufnahmen sollen die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) Bereitschaftspraxen an jenen Notaufnahmen einrichten. Dies wird Integriertes Notfallzentrum (INZ) genannt. Nach dem Konzept der Regierungskommission soll die Bereitschaftspraxis an allen Kliniken der Notfallstufe 3 rund um die Uhr besetzt sein. An allen Krankenhäusern der Notfallstufe 2 empfiehlt die Kommission eine Besetzung der Bereitschaftspraxis Mo-Fr 14-22 Uhr sowie Sa, So und feiertags 9-21 Uhr. Darüber hinaus sollen, wo regional erforderlich, auch an Kliniken der Notfallstufe 1 Bereitschaftspraxen oder Medizinische Versorgungszentren (MVZ) im 24/7-Betrieb eingerichtet werden. Zusätzlich empfiehlt die Regierungskommission, den fahrenden ärztlichen Bereitschaftsdienst auch zu Praxisöffnungszeiten, also rund um die Uhr, anzubieten. Vor diesem Hintergrund hat das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) aktuell berechnet, welche Effekte diese Regelungen auf die derzeitige ambulante Akut- und Notfallversorgung haben könnte.
Danach könne der Vorschlag der Regierungskommission dazu führen, dass die Zahl der Bereitschaftspraxen von heute rund 865 deutlich reduziert wird, da die Kommission von 160 Krankenhäusern der Notfallstufe 3 und von 260 Krankenhäusern der Notfallstufe 2 ausgeht. Um aber die erweiterten Präsenzzeiten in rund 420 INZ durch niedergelassene Allgemeinmediziner:innen, Internist:innen oder Chirurg:innen bereitstellen zu können, müssten rund 600 Vertragsarztpraxen täglich geschlossen werden. Der Grund hierfür ist, das niedergelassene Ärzt:innen zum Dienst in den Bereitschaftspraxen verpflichtet wären oder Ruhezeiten einzuhalten hätten und nicht zur medizinischen Versorgung ihrer Patient:innen in den Praxen zur Verfügung stehen könnten. Dies würde zunächst bedeuten, dass rund 4 Millionen Patientenkontakte in der vertragsärztlichen Regelversorgung nicht mehr wie üblich stattfinden könnten. Ein gewisser Anteil der betroffenen Patient:innen würde sich dann voraussichtlich an die Notfallversorgung wenden. An den INZ werden aber üblicherweise weniger Patient:innen pro Stunde behandelt als im regulären Praxisbetrieb. Geht man davon aus, dass an künftigen INZ in etwa die gleichen Fallzahlen pro Stunde ambulant behandelt werden wie heute, wäre dort mit rund 1 Million zusätzlichen Patientenkontakten zu rechnen. Rechnerisch bleiben somit rund 3 Millionen Patientenkontakte, die entweder in anderen Praxen versorgt werden müssten oder zusätzlich in die Notfallversorgung drängen und dort wieder eine Überlastung hervorrufen. Würde zusätzlich der fahrende Bereitschaftsdienst auf die Praxisöffnungszeiten erweitert, würden weitere rund 850 Praxen täglich geschlossen werden müssen.
„Wir müssen die Personalengpässe in der medizinischen Versorgung berücksichtigen. Wenn die Strukturen der Notfallversorgung dadurch entlastet werden, dass der Regelversorgung Personal entzogen wird, schmälert dies das Versorgungsangebot der Praxen. Wenn Patientinnen und Patienten auf diese Weise lernen, dass der Zugang zu ärztlicher Versorgung über die Angebote der Notfallversorgung einfacher ist, entsteht ein gefährlicher Sogeffekt weg von der Regelversorgung hin zur Notfallversorgung. Die zwangsläufige Folge wäre, dass die Notfallversorgung wieder überlastet wird“, sagte der Zi-Vorstandsvorsitzende Dr. Dominik von Stillfried.
„Im Jahr 2021 rechneten die Krankenhäuser rund 8,8 Millionen ambulante Notfälle mit den Kassenärztlichen Vereinigungen ab. Dieser Zahl standen ungefähr 200 Millionen behandelte Akutfälle in den Praxen gegenüber. Würden regelhaft nur 10 Prozent dieser Akutfälle, also 20 Millionen Patientinnen und Patienten jährlich Abhilfe in der Notfallversorgung statt in den Praxen suchen, wären Rettungsdienste und INZ sehr schnell überlastet. Die Regierungskommission muss daher neu denken: Die anstehende Reform darf den Zugang zur Notfallversorgung nicht so regeln, dass Patientinnen und Patienten die Notfall- gegenüber der Regelversorgung vorziehen. Dies würde nur einen Teufelskreis der Überlastung schaffen. Die medizinische Notfallbehandlung muss vielmehr etwas Besonderes für echte Notfälle bleiben“, machte von Stillfried deutlich.
„Bei ihren Empfehlungen zu INZ hat die Regierungskommission die Herausforderungen des voranschreitende Fachkräftemangel bei allen Gesundheitsberufen noch ausgeklammert. Alle verfügbaren personellen Ressourcen müssen optimal eingesetzt werden. Dies kann an wenigen Standorten mit INZ gelingen, dürfte aber die Ausnahme bleiben. Zielführender dürfte es sein, in Angebote zu investieren, die das Prinzip der Vermittlung Hilfesuchender in angemessene Versorgungsangebote stärken. Dazu gehört die telefonische oder digitale Terminvermittlung oder Beratung. Auf der Grundlage strukturierter Ersteinschätzungsverfahren kann ein nach Dringlichkeit und Versorgungsbedarf passendes Angebot vermittelt werden und in vielen Fällen gleich eine telemedizinische Behandlung erfolgen“, so der Zi-Vorstandsvorsitzende abschließend.