„Lieferengpässe bei Arzneimitteln sind kein neues Phänomen. Neu ist jedoch der Umfang der schwer zu liefernden Wirkstoffgruppen und die Anzahl der betroffenen Patientinnen und Patienten.
Bezogen auf die aktuelle Lieferengpassliste des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) haben im November 2022 mehr als 1,4 Millionen Patientinnen und Patienten mindestens eine Verordnung über einen der dort aktuell gemeldeten Wirkstoffe erhalten. Erfasst sind dabei nur die Verordnungen, die in einer Apotheke eingelöst werden konnten. Dies betraf zwar nur zwei Prozent aller Arzneimittelverordnungen, aber rund 75 Prozent aller verordnenden Praxen. Insbesondere Haus- und Kinderärztinnen und -ärzte sind mit der eingeschränkten Verfügbarkeit konfrontiert: Von ihnen stammen 87 Prozent der Verordnungen für Lieferengpass-Wirkstoffe. Davon betroffen waren insbesondere Herz-Kreislauf-Medikamente (z.B. Blutdrucksenker), Antibiotika und Mittel gegen obstruktive Atemwegserkrankungen (z.B. Bronchienerweiterer wie Salbutamol). Wie viele Patientinnen und Patienten das ursprünglich verordnete Arzneimittel nicht erhalten haben, ist anhand der Apothekenabrechnungsdaten nicht darstellbar und insoweit unbekannt.
Die Ursachen für die Lieferengpässe sind vielfältig: Neben Produktionsproblemen hat auch die aktuelle Infektionswelle zu Engpässen geführt. Der Grund hierfür ist, dass die zum Teil enorm gestiegene Nachfrage mit den vorhandenen Produktionskapazitäten nicht kompensiert werden kann. Bislang können die meisten Patientinnen und Patienten trotz der Lieferengpässe noch versorgt werden. Das heißt im Klartext: Aus einem Lieferengpass wird kein Versorgungsengpass! Zur Wahrheit gehört aber auch, dass nicht mehr in jedem Fall die beste Therapie möglich sein wird.
Ein Blick auf die Antibiotika zum Beispiel zeigt, dass in der Regel auf einen (noch) verfügbaren Wirkstoff ausgewichen werden kann. Dies bedeutet im Zweifel jedoch auch, dass von den Grundsätzen der rationalen Antibiotikatherapie abgewichen werden und ein weniger geeignetes Antibiotikum genutzt werden muss. Dies kann unter Umständen die Gefahr von Resistenzentwicklungen erhöhen. Eine besondere Herausforderung sind Lieferengpässe bei Wirkstoffen für die Behandlung von Krebserkrankungen. Diese sind oft Bestandteil von etablierten Therapieschemata und ohne geeignete Alternative.
Neben Ängsten, Irritationen und eventuellen gesundheitlichen Beeinträchtigungen bei den betroffenen Patientinnen und Patienten steigt auch der Arbeitsaufwand in Praxen und Apotheken. Muss bei chronisch erkrankten Patientinnen und Patienten die Arzneimitteltherapie umgestellt werden, ist eine Beratung und gegebenenfalls eine zusätzliche Blutentnahme indiziert. Dies führt bei ohnehin schon knappen zeitlichen Ressourcen zu einer weiter steigenden Arbeitsverdichtung. Noch gravierender ist es, wenn tatsächlich kein alternativer Wirkstoff zur Verfügung steht, die Patientinnen und Patienten aber dennoch dringend versorgt werden müssen. Zumeist gelingt dies über Einzelimporte, Stückelung mehrerer Packungen oder veränderte Therapieintervalle.
Um Lieferengpässe wirklich zu reduzieren oder gar zu verhindern, muss die Politik an den tatsächlichen Ursachen ansetzen und mehr Transparenz über Lieferwege schaffen, die oftmals allein den jeweiligen Pharmafirmen im Detail bekannt sind. Im Fokus stehen dabei: Abhängigkeiten von Lohnherstellern in Asien reduzieren und verbliebene Standorte in Europa stärken sowie Lieferengpässe konsequenter monitorieren, damit frühzeitig Maßnahmen ergriffen werden können und perspektivisch Prävention möglich ist.“
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