Vertragsärzt:innen bestätigen: Streichung der Neupatientenregelung wird gesetzlich Versicherten den Zugang zur ambulanten Behandlung erschweren und Praxen belasten // Besonders neu erkrankte Patient:innen mit erhöhtem Behandlungs- und Zeitbedarf betroffen
Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) hat gestern Abend im Rahmen seines Livestreaming-Formats „Zi insights“ aktuelle Daten zu den Versorgungseffekten der Neupatientenregelung vorgestellt und die zu erwartenden Auswirkungen einer geplanten Streichung mit Expert:innen aus der vertragsärztlichen Praxis diskutiert.
Die vom Zi ausgewerteten kassenärztlichen Abrechnungsdaten zeigen deutlich: Im ersten Quartal 2022 war die Zahl der Neupatientenfälle mit 27,1 Millionen so hoch wie noch nie seit Einführung der Regelung im Mai 2019 – sogar noch höher als in der massiven Grippewelle im ersten Quartal 2018. Auch im Gesamtjahr 2021 war der Wert mit insgesamt 101,1 Millionen deutlich höher als 2020 (92,8 Millionen) und 2019 (99,2 Millionen). Der Einbruch im Jahr 2020 spiegelt die insgesamt niedrige Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung während der ersten Corona-Pandemiewelle wider. Diese war auf die Auswirkungen der Kontaktbeschränkungen und Infektionsbefürchtungen der Versicherten zurückzuführen.
„Nach den Plänen der Bundesregierung soll die 2019 mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz eingeführte Neupatientenregelung heute im Bundestag wieder gekippt werden. Laut Bundesgesundheitsminister Lauterbach habe diese ‚nichts gebracht‘. Die Versorgungsdaten zeigen jedoch klipp und klar, dass die Regelung zusammen mit einer erhöhten Sprechstundenzeit zu einer deutlichen Verbesserung der vertragsärztlichen Versorgung, insbesondere neu erkrankter Patientinnen und Patienten geführt hat“, bekräftigte der Zi-Vorstandsvorsitzende Dr. Dominik von Stillfried. Auch Befragungsdaten der Krankenkassen zeigten, dass die Zufriedenheit der gesetzlich Versicherten mit der Wartezeit auf einen Facharzttermin zuletzt deutlich angestiegen ist.
Stillfried hob hervor, dass die haus- und fachärztliche Versorgung neuer Patient:innen Zeit erfordere, die im Praxisalltag oft knapp bemessen sei, zumal immer dann viele Neupatient:innen zu versorgen seien, wenn die Fallzahl ohnehin besonders hoch sei: „Warum sollen sich Praxen in Zeiten, in denen die ambulante medizinische Versorgung ohnehin auf Kante genäht ist, in Zukunft besonders ins Zeug legen, wenn ihnen die für die Versorgung dieser besonderen Personengruppe notwendigen Mittel gezielt gekürzt werden? Dass dies für die Betroffenen mit Einschränkungen der gesundheitlichen Versorgung einhergehen kann, liegt auf der Hand: Unsere Daten zeigen, dass 82 Prozent der Neupatientinnen und Neupatienten im gleichen Quartal auch eine neue Diagnose erhalten haben. Das heißt im Klartext, dass vor allem Neuerkrankte, die eine zeitnahe medizinische Behandlung benötigen, von der Regelung profitiert haben.“
Dr. Dirk Heinrich, niedergelassener Facharzt für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde in Hamburg sowie Bundesvorsitzender des Spitzenverbands Fachärzte Deutschlands (SpiFa) und des Virchowbunds, machte deutlich, dass mit der Streichung der Neupatientenregelung die fachärztliche Grundversorgung getroffen werde. Aber auch die hausärztliche Versorgung werde in Mitleidenschaft gezogen, da diese auf schnelle Termine zur fachärztlichen Mitbehandlung angewiesen sei. Gerade auch an sozial benachteiligten Standorten sei dies besonders relevant, da dort besonders häufige Wohnortwechsel stattfinden, die meist auch einen Wechsel der behandelnden Praxen nach sich ziehen.
„Diese Regelung hat Ärztinnen und Ärzte darin bestärkt, ihre Versorgung auszuweiten und dafür in Praxen und Infrastruktur zu investieren. Dass sich das gelohnt hat, belegen die Zahlen des Zi mit Nachdruck. Wer also ernsthaft an einer guten ärztlichen Versorgung für Patientinnen und Patienten interessiert ist, kann nicht für eine Abschaffung dieser Regelung votieren“, so Heinrich weiter. Der Vertrauensverlust durch die kurzfristige Streichung der Neupatientenregelung sei immens. „Auch der zuletzt von der Regierungskoalition ins Gesetzgebungsverfahren zum GKV-Finanzierungsstabilisierungsgesetz eingebrachte Änderungsantrag kann das verloren gegangene Vertrauen nicht ersetzen. Zwar sollen Fachärztinnen und Fachärzte, die über die Terminservicestellen und von Hausarztpraxen vermittelte Patientinnen und Patienten behandeln, eine höhere Vergütung erhalten – abhängig von der Schnelligkeit der Vermittlung. Eine stärkere Einbindung der Terminservicestellen kann den Wegfall der Neupatientenregelung aber nicht ansatzweise ausgleichen. Das bisherige Volumen der neuen Patientinnen und Patienten kann auch nicht alleine über die Hausarztpraxen gesteuert werden.“
Dr. Irmgard Landgraf, Fachärztin für Innere Medizin und Hausärztin in Berlin sowie Vorstandsmitglied im Hausärzteverband Berlin und Brandenburg, begrüßte zwar, dass die Terminvermittlung von der haus- in die fachärztliche Versorgung zusätzlich gefördert werde. Gleichzeitig verwies sie auf den deutlich erhöhten Zeit- und Behandlungsaufwand bei neuen Patient:innen – insbesondere in den letzten zweieinhalb Jahren unter den Bedingungen der Corona-Pandemie: „Ich befürchte, dass die medizinische Versorgungsqualität sich unmittelbar verschlechtern wird, weil meine Patientinnen und Patienten dringend notwendige Facharzttermine nicht mehr so zeitnah bekommen werden. Vieles wird dann in den Hausarztpraxen überbrückt werden müssen, von denen die meisten seit über zwei Jahren am Limit arbeiten und natürlich auch nicht immer lückenlos die fachärztliche Expertise substituieren können. Die kollegiale Interdisziplinarität zwischen Haus- und Fachärzteschaft wird dadurch schwer beschädigt. Zudem wird sich ein großes Stück Versorgungsrealität zwangsläufig in die Notaufnahmen der Krankenhäuser verlagern. Also genau dorthin, wo die Politik mit einer schon lange überfälligen Reform der Notfallversorgung gegensteuern und stationäre Behandlungsanteile ambulantisieren möchte. Damit werden die Bemühungen zur Entlastung der Notaufnahmen ad absurdum geführt.“
Mit der virtuellen Reihe „Zi insights“ stellt das Zi ca. alle sechs Wochen kurz und knapp neue Studien- und Projektergebnisse vor, um diese mit Expert:innen und digital zugeschalteten Gästen zu diskutieren. Den Programmflyer der gestrigen Ausgabe „Effekte der Neupatientenregelung für Patientinnen und Patienten – Auswirkungen der geplanten Abschaffung“ finden Sie hier. Der Mitschnitt des Livestreams sowie die präsentierten Folien stehen Ihnen hier zur Verfügung.
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