Medizinische Ersteinschätzung und Patientensteuerung zentrale Elemente der Reform von Akut- und Notfallversorgung // Studie von Charité und Uniklinikum Leipzig mit Referenzwerten für Weiterleitung selbsteinweisender Patienten aus Notaufnahmen in Praxen
Die Reform der Akut- und Notfallversorgung steht auf der gesundheitspolitischen Agenda derzeit ganz weit oben. Am 17. Juli 2024 hat das Bundeskabinett einen entsprechenden Gesetzentwurf beschlossen. Zentrales Ziel ist es unter anderem, Integrierte Notfallzentren (INZ) als neue, flächendeckende Struktur für Notfälle zu etablieren. Diese sollen an ausgewählten Krankenhausstandorten entstehen. Geplant ist, dass sie aus der Notaufnahme des Krankenhauses, einer Notdienstpraxis der zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung (KV) am Standort und ausgewählten Kooperationspraxen im Umfeld sowie einer zentralen Einschätzungsstelle gebildet werden. Hilfesuchende sollen künftig angehalten werden, vor der Vorstellung in einer Notaufnahme vorab eine telefonische Ersteinschätzung einzuholen oder eine digitale Selbsteinschätzung vorzunehmen. Wer sich dennoch direkt in einem INZ vorstellt, soll durch die zentrale Ersteinschätzungsstelle in die angemessene Versorgungsebene geleitet werden. Zu den vertragsärztlichen Sprechstundenzeiten sollen Hilfesuchende ohne sofortigen Behandlungsbedarf in einer Notaufnahme zu den in der Nähe liegenden niedergelassene Praxen angebunden werden, die als „Kooperationspraxen“ Patientinnen und Patienten ambulant behandeln. In den Abendstunden und am Wochenende steht die Notdienstpraxis am Standort zur Verfügung, in den Nachtstunden erfolgt die Versorgung durch die Notaufnahme des Krankenhauses. Die gemeinsame Ersteinschätzungsstelle, die mit den Praxen und der Notaufnahme digital verbunden sein soll, wird der zentrale Anlaufpunkt für Hilfesuchende am jeweiligen Standort. In der Fachwelt wird jedoch noch diskutiert, mit welchem Ersteinschätzungsverfahren Hilfesuchende sicher insbesondere in Kooperationspraxen geleitet werden können, die nicht auf dem Krankenhausgelände liegen.
Vor diesem Hintergrund hat die Charité – Universitätsmedizin Berlin und das Universitätsklinikum Leipzig aktuell die Ergebnisse einer Studie zur „Evaluation eines Assistenzsystems zur Patientensteuerung in der Notaufnahme“ veröffentlicht, mit der bereits im Februar 2022 begonnen wurde. Darin wird die Patientensicherheit des vom Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) mitentwickelten Medizinprodukts SmED (Strukturierte medizinische Ersteinschätzung in Deutschland) zur Patientensteuerung in der Notaufnahme an 1.840 Patientinnen und Patienten untersucht (SmED Kontakt+). Im Rahmen der Studie sind alle teilnehmenden Patientinnen und Patienten in den Notaufnahmen der Charité oder des Universitätsklinikums Leipzig behandelt, also nicht tatsächlich weitergeleitet worden. Geprüft wurde, ob im Falle einer hypothetischen Weiterleitung auf Basis einer Empfehlung des Medizinprodukts nach Ansicht der erstbehandelnden Ärztinnen und Ärzte bzw. Expertinnen und Experten aus Klinik und Niederlassung unter Prüfung möglicher Risiken eine potenzielle Beeinträchtigung der Patientensicherheit zu erwarten gewesen wäre. Eine Beeinträchtigung der Patientensicherheit wurde angenommen, wenn ein potenziell lebensbedrohender Verlauf, eine potenziell bleibende, schwerwiegende Behinderung oder eine potenziell manifeste klinische Verschlechterung zu erwarten gewesen wären. Die endgültige Bewertung ist durch ein Expertengremium aus niedergelassenen und am Krankenhaus angestellten Fachärztinnen und Fachärzten vorgenommen worden. Geprüft wurden alle Fälle, in denen die tatsächlich behandelnden Ärztinnen und Ärzte in der Notaufnahme den Zustand des Hilfesuchenden kritischer eingeschätzt hatten als das Medizinprodukt sowie stichprobenhaft gezogene Fälle. Mehrheitlich sind die Fälle durch SmED Kontakt+ kritischer bewertet worden als durch die erstbehandelnden Ärztinnen und Ärzte (66 Prozent). Der Anteil der durch die SmED Kontakt+-Empfehlung potenziell gefährdeten Fälle lag bei 2,7 Prozent, das obere Konfidenzintervall unter Hochrechnung aus Stichprobenfällen bei 3,7 Prozent. Die meisten potenziellen Gefährdungslagen sind in Bereichen angenommen worden, in denen die Empfehlung des Medizinprodukts eine Behandlung auch später als 24 Stunden und/oder eine telemedizinische Versorgung als ausreichend ansah.
Daher empfehlen die Autorinnen und Autoren der Studie, dass die weiterführende Versorgung in niedergelassenen Versorgungsstrukturen mit verbindlicher Anmeldung zeitnah erfolgen sollte. Zudem müssten die anzusteuernden Versorgungsstrukturen zuverlässig verfügbar sowie personell und technisch den Anforderungen des Falls entsprechend ausgestattet sein. Eine Weiterleitung aus der Notaufnahme in eine ambulante Struktur zu einem späteren Versorgungszeitpunkt auf Basis von SmED Kontakt+ sollte nicht erfolgen, so das Fazit des Autorenkollektivs.
„Die jetzt veröffentlichte Studie ist ein wichtiger fachlicher Beitrag für die Steuerung von Hilfesuchenden in der Notaufnahme. Folgt man den Empfehlungen der Studienautorinnenund -autoren, sollte der Anteil potenzieller Gefährdungen deutlich reduziert werden können. Für den Erfolg der Patientensteuerung in der Notfallversorgung unter Alltagsbedingungen zählt jedoch nicht allein das Ersteinschätzungsverfahren, sondern der Gesamtkontext. Entscheidende Fragen sind hier: Wie wird Patientenzugang am Standort organisiert? Wie schnell und sicher erfolgt die Ersteinschätzung? Und schließlich: Wie schnell wird eine geeignete und verfügbare Kooperationspraxis gefunden und der Hilfesuchende dort angemeldet? Dafür sind digitale Lösungen unverzichtbar. Vernetzungen zwischen Notaufnahmen und Kooperationspraxen müssen sich noch etablieren, damit optimale medizinische Ergebnisse sichergestellt werden. Erste Projektergebnisse außerhalb der Metropolregion Berlin, die zum Teil bereits anderweitig publiziert sind, bestätigen diese Perspektive. Auch in diesen Projekten erfolgte eine Weiterleitung der als geeignet identifizierten Patienten und Patientinnen in ausgewählte Kooperationspraxen möglichst umgehend nach der Vorstellung am Tresen einer Notaufnahme. Insgesamt erhärtet sich die Erkenntnis, dass die Umsetzung des INZ-Konzepts aus dem Entwurf des Notfallgesetzes jetzt angegangen werden kann“, sagte der Zi-Vorstandsvorsitzende Dr. Dominik von Stillfried.
Das Medizinprodukt sei in der Notaufnahme mit einer durchschnittlichen Einschätzungsdauer von 2-3 Minuten effizient und zuverlässig einsetzbar, so von Stillfried weiter. Erfahrungen am Ersteinschätzungstresen zeigen zudem, dass mit zunehmender Praxis auch weitaus kürzere Zeiten realisiert werden können.
„SmED-Kontakt+ wird basierend auf Rückmeldungen aus Studien und Routineanwendungen stetig weiterentwickelt, um Effektivität, Effizienz und Sicherheit fortlaufend zu erhöhen. Dazu dienen auch die Daten aus der Patientensicherheitsstudie der Charité – Universitätsmedizin Berlin und des Universitätsklinikum Leipzig. Gleichzeitig sollte laufend geprüft werden, ob in der laufenden Anwendung Gefährdungen auftreten.“, bekräftigte der Zi-Vorstandsvorsitzende.
Das Projekt zur Weiterleitung von Kooperationspraxen, Studienergebnisse
Die Patientensicherheitsstudie von Charité-Universitätsmedizin & Universitätsklinikum Leipzig finden Sie hier.
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